Grenzenlose Spurensuche

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In Gmünd startet mit dem Iron Curtain Trail ein Radweg zwischen zwei Ländern und folgt den Spuren der Vergangenheit. Harald Winkler kennt die Grenzgeschichte(n).

Acht Mal von Gmünd nach Retz. So oft wechseln Radfahrer:innen auf dem Iron Curtain Trail zwischen Österreich und Tschechien. Wo sich einst der Eiserne Vorhang entlang zog, erfährt man heute beim Radeln viel von beiden Ländern und der Geschichte, die sie eint.

„Radfahren hier im nördlichen Waldviertel ist wirklich eine schöne Geschichte“, zeigt sich Harald Winkler begeistert. Allein schon wegen der einzigartigen Flora und Fauna des Grünen Bandes entlang des Weges – beim Naturpark Blockheide, beim UNESCO-Biosphärenreservat Trebonsko oder beim Nationalpark Thayatal – und insbesondere, weil der Weg so geschichtsträchtig ist. Daran denkt Winkler, wenn er über Orte entlang des Iron Curtain Trail redet: Deren Geschichten und der Zeitgeschichte widmet er selbst nämlich mehr Zeit als dem Fahrradfahren an sich. Winkler ist ein Gmünder, der, wie er sagt, „mit der europäischen Stimmung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit groß geworden“ ist.

1989 zum Fall des Eisernen Vorhanges geboren, beschäftigen ihn die Nachwirkungen der Grenzöffnung auch heute, 34 Jahre später. Er hat schon ein paar Bücher zur Chronik der Gegend geschrieben, mit der er familiär und beruflich verwurzelt ist. Winkler ist für die Öffentlichkeitsarbeit der Stadtgemeinde zuständig und Kurator im Haus der Gmünder Zeitgeschichte. Und er weiß außerdem genau, wie historisch verwoben Österreich und Tschechien in dieser Grenzgegend sind: „Das waren immer zwei Gebiete, die zusammengehört haben." Auch wenn der Stadthistoriker selbst nicht oft am Rad sitzt, kennt er sich gut aus, wo man in Gmünd die Vergangenheit per Fahrrad erkunden kann - und verrät bedeutsame Plätze.

Geschichte zum Angreifen

Weit radeln muss man noch gar nicht, um zu den ersten Besonderheiten zu kommen. Schon in Gmünd, dem Startpunkt der ersten Etappe des Iron Curtain Trails im Waldviertel, ist die Historie derart verdichtet, dass man das Rad getrost abstellen und die Umgebung erkunden kann. Es kann ruhig indoor losgehen, ehe man sich radelnd die Frischluft holt: Im Haus der Zeitgeschichte erzählt die Dauerausstellung von der Grenze und zeigt den Ort im Wandel seit der Eröffnung der Franz-Josefs-Bahn. „Gmünd bringt die Geschichte zum Angreifen“, sagt Winkler und ergänzt, dass das auch außerhalb der Museumsräume gilt – vor allem in der Bleylebenstraße. Dort trennte die Grenze einmal die Stadt vom benachbarten České Velenice in Tschechien, heute quert man ohne weiteres die verbindende Brücke über den Grenzfluss Lainsitz. Und so kann man hier nicht nur Geschichte bildlich sehen, sondern auch, „wie aus der getrennten Vergangenheit wieder eine gemeinsame Gegenwart wurde“, betont Winkler und wird dabei fast schwärmerisch: „Die Brücke steht symbolisch für die Zusammenarbeit der beiden Städte, die super funktioniert – von praktischen Dingen wie einer gemeinsamen Notwasserversorgung, dem Gesundheits- und Bildungsbereich bis hin zur Kultur.“

Verschwundenes wird sichtbar

Die ehemals unüberwindbare Barriere vom Kalten Krieg ist heute fast komplett verschwunden. Nur noch vereinzelt sind originale verrostete Schilder mit der Aufschrift „Achtung Staatsgrenze“ am Straßenrand zu finden. Bei der Bleylebenstraße wurde als Erinnerungsort ein Stück des Eisernen Vorhangs nachgebaut: „Damit hat man nun etwas zum Herzeigen“, meint Winkler über das neue Mahnmal. Fährt man von hier weiter über die Brücke, stößt man in Tschechien auf den alten Bahnhof von Gmünd. Dort startet auch der Themenweg „Zeitge(h)schichte zweier Städte“, den Winkler Vorbeikommenden nahelegt. Es ist noch so ein besonderer Ort, der die Verbundenheit von dereinst sichtbar macht.

Eben dieses Sichtbarmachen hat sich auch der Kulturverein „Übergänge – Přechody“ als Ziel gesetzt, der die Nahtstellen zwischen Ost- und Westeuropa mit einem Festival im Juli feiert – und zu einer neuen Form der Geschichtsvermittlung mit Augmented-Reality-Exkursionen einlädt: Mittels Handy-App sucht man zehn Orte auf, wo sich virtuell Grenzgeschichten und ehemalige Gebäude vor einem aufbauen. „Wir unterstützen als Stadtgemeinde Gmünd das Projekt mit zwei recherchierten Fluchtgeschichten“, erklärt Winkler. Freilich lassen sich all diese Wege mit dem Fahrrad befahren. Und wenn man dann schon in die Pedale tritt, fährt man am besten weiter: Die geschichtsträchtigen Orte, die diese Wege streifen, setzten sich entlang dieser einzigartigen Strecke fort und so führen sie die folgenden Radetappen tief in die Geschichte Europas.

Umsonst und draußen

Ist man also in Gmünd losgeradelt, wird man nach einigen Grenzüberfahrten und Kilometern mit authentischen Überbleibseln des Kalten Krieges und außergewöhnlichen Schauplätzen belohnt: eine Geschichtstour im Freien, ganz umsonst. Schon nach zwei Etappen stößt man beim stillgelegten Grenzposten Fratres/Slavonice auf die riesige Zaun-Kunstinstallation „Wohin verschwinden die Grenzen?“ von Iris Andraschek & Hubert Lobnig. Vier Meter hoch und fünfzig Meter lang ist die Metallkonstruktion, auf der oben der titelgebende Schriftzug thront – noch ein Tipp von Winkler für einen Ort, an dem Abgrenzung und Öffnung sichtbar ist. Mit der begehbaren Bunkeranlage in Slavonice finden sich auch rekonstruierte Relikte. Legt man noch einige Radkilometer darauf, erreicht man bei Čížov gar eine der seltenen Stellen, wo Reste des Eisernen Vorhangs, Stacheldrahtzäune und Wachtürme erhalten sind.

Für diejenigen, die sich am Iron Curtain Trail dorthin die Kräfte einteilen, hat Winkler einen letzten Rat: Mit der Waldviertelbahn kann man das Rad ein paar Kilometer mitnehmen und sich so die Spurensuche erleichtern. Denn immerhin fährt man hier auf dem längsten Radweg Europas.