Alte Grenzen, neue Freiheit

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Rund 10.000 Kilometer auf dem E-Bike: Joachim Franz ist den historischen Spuren des „Eisernen Vorhangs“ gefolgt und hat dabei Europa neu entdeckt.

Im Alter von 30 Jahren hat der Deutsche seinen Job als Schichtarbeiter bei Volkswagen gekündigt und sein Leben von Grund auf geändert. Heute ist Joachim Franz erfolgreicher Extremsportler, Buchautor und Motivationscoach. Und: Er hat mit dem E-Bike den längsten Radfernweg Europas befahren.

Der Iron Curtain Trail durchquert auf einer Länge von über 9.950 Kilometer 20 Staatenvon der Barentssee in Norwegen bis zum Schwarzen Meer in Bulgarien. Die geschichtsträchtige Radstrecke entlang des „Eisernen Vorhangs“ steht heute für die Wiedervereinigung und friedliche Revolution Europas. 25 Jahre nach dem Fall der Grenzzäune schwingt sich Joachim Franz in den Sattel seines E-Bikes und folgt dem einstigen Grenzverlauf: Über 200 km seines Weges führen dabei durch das Wald- und Weinviertel entlang der österreichisch-tschechischen Grenze. Wir haben den sympathischen Abenteurer zum Gespräch über Grenzerfahrungen, Freiheitsgefühle und Vorurteile gegenüber E-Bikes getroffen.

Du bist 2014 mit dem E-Bike den Iron Curtain Trail entlang geradelt – wie kam es zu diesem Abenteuer?

Eigentlich war es Zufall: Im Rahmen eines Programms der Deutschen Bundesregierung zur Förderung der Elektromobilität mit dem Namen „Schaufenster Elektromobilität“ ist man auf meinen Partner Christian Roth und mich zugekommen und hat uns gefragt, ob wir Lust auf die Aktion hätten. Wir haben gar nicht lange überlegt, sondern die Gelegenheit einfach beim Schopf gepackt.

Ihr habt euch aber bestimmt vorbereitet, trainiert und die Route durchgeplant?

Wir hatten ein paar Monate Vorlaufzeit: Unser Training bestand größtenteils in der Umgewöhnung vom Rennradfahren auf die Geometrie und Handhabung eines E-Bikes. Man darf nicht vergessen: 2014 waren E-Bikes nicht so weit verbreitet wie heutzutage. Selbst wir hatten Vorurteile gegenüber einem Rad mit Elektromotor und dachten uns: „Das ist doch was für alte Menschen, oder?“ In Wirklichkeit ist es aber so, dass E-Bikes mobile Freiheiten schaffen, wo vorher Grenzen waren – das fanden wir sehr stimmig und passend für unser Vorhaben. Außerdem wollten wir innerhalb eines Monats von der norwegisch-russischen Grenze bei Kirkenes bis zur türkisch-bulgarischen Grenze am Schwarzen Meer radeln. Im Schnitt sind wir 300 bis 350 km pro Tag im Sattel gesessen, das wäre ohne elektronische Unterstützung gar nicht möglich gewesen.

Ihr habt also den „Turbo“ angeworfen und überprüft, wie lange die Batterien halten?

Nicht so ganz (lacht). Wir sind die gesamte Strecke auf der Einstellung „Tour“ gefahren, schon allein aus Gründen der Ehre. Im Tour-Modus muss man eine hohe Trittfrequenz beibehalten – es war also trotz Elektroantrieb ganz schön anstrengend.

Während ihr topografische Grenzen überschritten habt, seid ihr also auch an eure körperlichen Grenzen gestoßen?

Auf jeden Fall! Aus logistischen Gründen sind wir von einem Team aus Fotografen und Filmern begleitet worden, da wir diese Reise dokumentieren wollten. Unser Gepäck haben wir also nicht auf den Rädern transportiert, trotz allem mussten wir jeden Abend nach dem Radfahren einen Schlafplatz finden und die nächste Tagesetappe planen.

Wo habt ihr denn übernachtet?

Wir haben einfach bei den Menschen angeklopft und gefragt, ob wir unsere Zelte in ihren Gärten aufschlagen dürfen. Und überall – mit einer einzigen Ausnahme in Deutschland (lacht) – sind wir mit offenen Armen empfangen worden. Genau deshalb war diese Reise auch so erfolgreich: Sie hat gezeigt, dass Europa seine Grenzen nicht nur im physischen Sinne, sondern auch in den Köpfen der Menschen überwunden hat. Deshalb rate ich auch jedem jungen Menschen, diesen historischen Radweg zu befahren.

200 km des Iron Curtain Trail verlaufen ja durch das schöne Waldviertel. Welche Erinnerungen hast du an diesen Streckenabschnitt?

Vor meinen Augen sehe ich grüne Felder, blaue Flüsse und schroffe Felsen. Unsere Route hat über eine Landschaft aus Hügeln und Tälern geführt, kaum ein Grenzabschnitt war so unterschiedlich und imposant zugleich – das war abwechslungsreich für den Kopf und spannend für den Körper. Außerdem kann ich mich noch gut an eine skurrile Begegnung mit einem Triathleten erinnern.

Jetzt sind wir neugierig geworden.

Er ist auf einer Landstraße vor uns aufgetaucht und hat richtig in die Pedale getreten. Wir haben ihn überholt, was ihn sichtlich angespornt haben dürfte, denn keine paar Kilometer später hatte er wieder zu uns aufgeschlossen. Als er dann die Batterien an unseren Rädern entdeckte, hat er laut geflucht. Wie gesagt: E-Biken war damals noch verpönt. Er hat dann aber nachgefragt, was wir mit unseren Rädern vorhatten, und als wir ihm von unserem Abenteuer erzählten, hat sich seine Einstellung schlagartig zum Positiven verändert.

Inwiefern hat euch denn diese Reise von Norwegen über das zentraleuropäische Waldviertel und bis an die Küste Bulgariens verändert?

Wir sind mit Sicherheit nicht mehr die Menschen, die wir vorher waren. Wir haben unzählige Zeitzeugen auf unserer Reise getroffen, ihre Erzählungen werden wir für immer in Erinnerung behalten. Nur wer die Vergangenheit kennt, kann eine Zukunft voll Freiheit gestalten.

Joachim Franz schrieb ein Buch über seine Erfahrungen am Iron Curtain Trail mit dem Titel "Am Eisernen Vorhang".