Der Zauber der Vergangenheit

Fotografin Yvonne Oswald hat das Südbahnhotel porträtiert: von der Essenz der Sommerfrische, dem Charakter eines Hauses und den Geschichten seiner Menschen.

Einst war es das bedeutendste Grandhotel Europas – das Südbahnhotel am Semmering. Lange Zeit galt es als Zentrum der intellektuellen Elite des Fin de Siècle. Seit über 50 Jahren steht es leer, seine magische Aura hat es dennoch nicht verloren.  

Yvonne Oswald war neugierig. Also hat sie sich auf die Zehenspitzen gestellt und durch die großen Glasfenster ins Innere des Hotels geluchst. „Es war nur ein kurzer Blick“, sagt sie, der sie aber nicht mehr loslassen wollte. Die Fotografin wollte mehr wissen: über das Haus, die Räume, die Menschen, die Zeit, das Leben und die Gespräche. „Was war passiert? Warum steht hier alles still?“, waren ihre ersten Fragen. Auf der Suche nach Antworten war der Künstlerin schnell klar: Das Hotel muss sie fotografieren.  

Frau Oswald, wie oft haben Sie sich beim Fotografieren im Südbahnhotel verirrt? 

Ich musste nicht nur einmal den Hausmeister um Hilfe rufen, weil ich in den Räumen und Hallen des Hauses verloren gegangen war. Ich war ja immer alleine dort zum Arbeiten. Ich wollte das Haus spüren und in die Geschichte von damals eintauchen, dafür benötigt man Stille und Ruhe. Als Künstlerin will man ja aus sich schöpfen. 

Sie haben sich sehr viel Zeit genommen für Ihre Arbeit, über fünf Jahre lang sind Sie immer wieder zum Semmering hochgefahren.  

Ich war zu jeder Jahreszeit oben. Egal ob es geregnet, geschneit oder die Sonne geschienen hat – ich wollte das Südbahnhotel in seiner Gesamtheit erleben.  

Wie fängt man denn so ein gewaltiges Bauwerk der Architektur ein? Wo beginnt man und wann hört man auf? 

Man folgt seinem künstlerischen Instinkt, liest sich in die Geschichte des Hauses ein und fühlt sich in die Dinge ein. Das Südbahnhotel ist ja nicht bloß ein architektonisch anspruchsvolles und überdies ästhetisches Gebäude, vielmehr ist es ein stummer Zeitzeuge einer längst vergangenen Epoche. Im Gegensatz etwa zum Hotel Panhans ist es von Renovierungsarbeiten „verschont" geblieben. Ich konnte das Haus also mehr oder weniger so erleben, wie es früher einmal war. Dabei bin ich völlig zwanglos vorgegangen, manchmal habe ich einen gesamten Tag bloß in einem Zimmer verbracht. 

Der Waldhofsaal ziert nicht nur das Cover ihres Buches, Sie haben diesem Raum auch mehrere Seiten gewidmet. Hat sich zwischen Ihnen und dem ehemaligen Ball- und Frühstückssaal eine besondere Beziehung aufgebaut? 

Von diesem Raum ging eine starke Anziehung auf mich aus, ich bin immer wieder dorthin zurückgekehrt. Obwohl das Südbahnhotel schattseitig errichtet wurde, strahlt der Waldhofsaal eine Atmosphäre der Wärme und Freundlichkeit aus. Es war ein Ort der Begegnung und Zusammenkunft, das konnte ich ganz stark spüren. Von der angrenzenden Terrasse aus, dem „Promenadendeck“, überblickt man die Landschaft und fühlt sich wahrhaftig wie auf einem Schiff, das über dem Land, ja vielleicht sogar über der Normalität, schwebt. Es liegt dort ein kleiner Zauber in der Luft, die Erzählungen aus der Zeit von Karl Kraus hallen an diesem Ort besonders stark nach.

Haben Sie die Stimmen von Sigmund Freud, Franz Werfel oder Stefan Zweig ebenso vernommen? 

Ihre Stimmen nicht, aber ihre Gedanken und Texte konnte ich nachvollziehen. Die Spuren der Vergangenheit sind ja alle da – egal, wo man sich in dem Hotel bewegt. Man sieht einen Tisch stehen und denkt sich: Wer ist dort gesessen? Hat Stefan Zweig hier geschrieben? Haben sich Gustav und Alma Mahler da gestritten?  

Wissen Sie es? 

Yvonne Oswald: Natürlich nicht, aber ihre Geschichten sind spürbar. Und manchmal sogar angreifbar: In einem Zimmer sind sechs verschiedene Schichten Tapete von der Wand gehangen. Ich habe sie leicht angehoben und untersucht. Wenn man genau hinsieht, dann erkennt man, wie sich der Stil über die Zeit verändert hat.  

Hat sich im Zuge Ihrer Arbeit auch Ihr Blick auf die Sommerfrische im Südbahnhotel verändert? 

Für mich begründet sich der Zauber der einstigen Sommerfrische im Zusammenkommen von Menschen verschiedenster sozialer Klassen: Von der Aristokratie über das Bürgertum und die Kunstszene bis hin zu den „schattigeren Gestalten“. Sie alle sind dort oben aufeinandergetroffen, völlig ungezwungen. Man hat sich einander angenähert, miteinander unterhalten, vermutlich wild debattiert oder für sich selbst philosophiert. Jedenfalls sind sie immer und immer wiedergekommen. Weil der Semmering und seine Landschaft nicht nur Frischluft versprochen haben, sondern weil er ein guter Ort zum Leben und Arbeiten war. Aber das ist Vergangenheit. Doch es scheint so, als ob dort oben frischer Wind und neue Ideen aufkommen, auf jeden Fall tut sich etwas für die Zukunft des Semmerings. 

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