Vier Kanten und die Birne

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„Diese Häuser hat der Most gebaut“: Rund 3.500 historische Vierkanthöfe erzählen die Geschichte der Region auf ganz eigene Weise.

Was im Rohzustand kaum genießbares Obst und vierkantige Höfe gemeinsam haben? Ihre Faszination erschließt sich nicht sofort. Im Mostviertel ist das ungleiche Paar aber kaum zu trennen.

Rund 300 verschiedene Birnensorten sind im Mostviertel vertreten, etwa 20 bis 30 werden zur Mostherstellung verwendet. Wer hineinbeißt, mag vom herben Geschmack der Frucht überrascht sein. Kein Wunder, sind sie doch nicht zum Verzehr gedacht, sondern geben ihre enorme geschmackliche Vielfalt erst nach der Verarbeitung preis. In Form von Säften, Essigen und Edelbränden, ebenso wie als Schokolade, Öl und „Kaviar der kleinen Leute“, wie Mostbaron Toni Distelberger seine mit Birnenmost marinierten Senfkörner nennt. Nicht zu vergessen die edelste Form der Verarbeitung: der für die Region so typische sortenreine Birnenmost. So wie die Mostbirnen versperren sich auch die zahlreichen, auf den sanft geschwungenen Hügeln thronenden Vierkanthöfe dem einfachen Zugang. Trutzig wirken sie, wie Burgen, die es einzunehmen gilt. Bitte eintreten – schließlich erzählen diese Höfe die Geschichte des Mostviertels auf ganz eigene Art

Der Vierkanthof als Ausdruck eines neuen Wohlstands 

Die meisten Höfe sind etwa 150 Jahre alt, stammen also aus einer Zeit, die der Region wachsenden Wohlstand brachte. Neben der Holzwirtschaft und Eisenproduktion lag das auch an der Mostproduktion – nicht von ungefähr kommt der Satz „Diese Häuser hat der Most gebaut“ – und dem Bau der Westbahn. An die Bauarbeiter:innen haben die Einheimischen ihren Birnenmost verkauft. Andere exportierten ihn mit der Kutsche bis nach Wien und Berlin. Umgekehrt brachte die Westbahn Arbeitskräfte in die Region, hauptsächlich aus dem Friaul. Auch wenn deren Namen größtenteils in Vergessenheit geraten sind, haben sie doch in architektonischer Form Spuren hinterlassen, etwa in Form von gebogenen Fenster- und Türstürzen der Vierkanthöfe und deren vorgelagerten Sichtziegelfassaden.  

Mit diesen Höfen fand der steigende Wohlstand der Bauersfamilien eine architektonische, im Stil oftmals historistische Entsprechung. Vorbild waren städtische Bürgerhäuser und klösterliche Stifte, typisch deren rechtwinklige Form und der innenseitig gelegene, geschützte Hof, unterteilt in Stallungen, Wohn- und Wirtschaftstrakt. Das dicke Mauerwerk hat im Sommer eine kühlende und im Winter eine wärmeisolierende Funktion, was nicht zuletzt an den verwendeten Lehmziegeln liegt. Auch hier profitierte die Region von ihren Gastarbeitern, schließlich waren die fähigsten Ziegelbrenner Italiener. Gebrannt wurde zum Beispiel in Haag, im größten Ziegelbrennwerk der Region, aus Lehm, also genau jenem Material, das auch für das Wachstum der Birnenbäume eine wichtige Rolle spielt. Regionales Material, lokales Handwerk – genau das, was zurzeit sehr angesagt ist.  

Apropos heute: Die rund 3.500 erhaltenen Vierkanter sind mehr als Zeugen vergangener Zeiten. Manche dienen Landwirt:innen für den Ab-Hof-Verkauf, andere – wie der Dorferhof in Weistrach oder der Hof Rabenlehen in Weistrach – als Urlaubsbauernhof. In einigen finden Events und Seminare statt, andere dienen als Reitschulen, Firmensitz oder, wie im Fall von Johannes Domenig in Wolfsbach, als Kunstatelier. Und schließlich wurden einige zu Mostheurigen umfunktioniert: als doppeltes Aushängeschild der Region. 

Vierkanter Gottes 

Neben den bäuerlichen gab es auch einen geistlichen Vierkanthof. Dieser „Vierkanter Gottes“, eine Art spirituelles Herz des Mostviertels, ist das Stift Seitenstetten. In dessen historischen Hofgarten, der mit seinen Wasserbecken, Fontänen und geometrisch angelegten Wegen ein Beispiel historischer Gartenkunst ist, blühen Kräuter, Blumen – und Mostbirnbäume. Ein Tagesausflug sollte unbedingt einen Abstecher in die Äbtegalerie, in den prunkvollen Marmorsaal und in die Stiftsbibliothek beinhalten. Dort finden sich 400 Jahre alte Rezepte für Erdäpfelsalat und -kuchen, die zurückgehen auf Abt Kaspar von Seitenstetten, der im Klostergarten die ersten Erdäpfel Österreichs anbaute. Wer eine Auszeit vom Alltag braucht, ist dazu eingeladen, länger im Stift zu bleiben, im Rahmen spiritueller Retreats.  

Vom Stift Seitenstetten sind es nur wenige Kilometer bis zum MostBirnHaus. In dessen Spezerei und Verkostungsstraße wartet die größte Birnenmostauswahl Österreichs, viele weitere Mostbirnenerzeugnisse sowie hochwertige regionale Produkte wie Beeren und Spargel vom Lehner aus Haag oder der Mostviertler Schofkas mit seinen unverkennbaren Noten alpiner Pflanzen und Kräuter. 

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